Der färöische Schriftsteller und Dichter Hanus Kamban, geboren 1942, widmet sich seit 1980 vor allem der Gattung der Novelle. Der Autor behandelt seine Themen und spielt seine psychologisch sensiblen Schilderungen

auf zweierlei Leinwänden ab, erstens in der Kleinwelt der Peripherie, mit religiöser und sexueller Unterdrückung, zweitens im topografischen und literarischen Raum Europas. Da viele seiner Texte assoziative und retrospektive Züge haben, schmelzen in seinen Erzählungen nicht selten diese Leinwände zusammen. Das alles hängt damit zusammen, dass der Autor zwar mit Dichtern wie Celan und Mallarmé, in der Originalsprache, vertraulich ist, aber darüberhinaus das färöische Mittelalter sozusagen in seiner Seele trägt. Er kennt die alten Sagen und die Balladen und tritt auch gelegentlich im mittelalterlichen Kettentanz, der auf den Färöern noch lebendige Tradition ist, als Vorsänger auf.

Von Kambans ersten Novellen, die fast alle in der Form realistisch sind, darf vor allem der Text “Unter deinen Fittichen” hervorgehoben werden, die Schilderung eines Jungen, der in einem von engstirnigem Missionarismus überschatteten Dorf aufwächst und durch sexuelle Vergewaltigung und Angst vor der Hölle seelischen Zusammenbruch erleidet. Diese Geschichte findet man in deutscher Übersetzung in der Anthologie Von Inseln weiss ich (Unionsverlag 2006). Als die Erzählung in einer französischen Anthologie mit skandinavischen Novellen erschien, schrieb Magasin litteraire, juni 1991:

La plus forte impression vient pourtant d´un auteur feroïen … dont la nouvelle A l´abri de tes ailes, traduite par Jean Renaud, lève le voile sur le monde étroit, angoissé, de ces îles austères.

(Den tiefsten Eindruck macht doch ein färöischer Autor … dessen Erzählung “Unter deinen Fittichen”, von Jean Renaud übersetzt, die Schleier dieser bornierten, angsterfüllten, strengen Inseln lüftet.)

Als 2001 Kambans vierte Novellensammlung Pílagrímar (Pilger) erschien, konnten Leser und Kritiker feststellen, dass der Autor den Realismus verlassen hatte, endgültig wie es schien, und sich in der Richtung eines teilweise phantastisch geprägten Modernismus bewegt hatte. Die Helden dieser Geschichten sind nicht selten existentielle Pilger, auf der Wanderung nach einem Ziel, das als eine Utopie der Liebe oder der Ästhetik oder des verwirklichten Seins beschrieben werden kann, in anderen Fällen treten sie hervor als, wie es in der Novelle “Angels Place” heisst, “gottesverlassene Seelen, wild, verirrt, eine ferne Herberge suchend, die nicht von dieser Welt ist”.

Eine dieser Geschichten schildert eine färöische Prostituierte in Kopenhagen, die sich notdürftig mit antidepressivem Medizin am Leben hält und erst dann unterliegt, als der Selbstmord ihres Bruders eine traumatische pädophile Erinnerung im Gedächtnis herforruft. In einer anderen Novelle erleben Nikolaj Bucharin, der russische Revolutionär, und seine Frau, im Sommeridyll der färöischen Berge, am Anfang des 21. Jahrhunderts, ein erotisches Sich-Wiedertreffen. In die längste Erzählung des Bandes, die den Titel “Der weisse Mann” trägt und mitten im 19. Jahrhundert spielt, mischt der Autor Sagen, die er als Kind gehört hat auf der Insel Skúvoy, wo er aufgewachsen ist. Der Protagonist dieser Doppelgängergeschichte, ein Schönheitssucher mit tiefen seelichen Narben, flüchtet aus seiner Heimat nach Grossbritannien, von dem einen Wunsch besessen, den Dom in Canterbury zu sehen. Beeindruckend ist in dieser Novelle die plastische Beschreibung der färöischen Landschaft, mit Schilderungen von Felsen und Nebel, die an J.R.R. Tolkien erinnern. In seiner Rezension dieses Buches schrieb der dänische Kritiker Erik Skyum-Nielsen in der Zeitung Information, dass der Autor in der Lehre gestanden hat

nicht nur bei Poe, sondern auch bei Joyce, Baudelaire und Blake. Er sucht poetische Gesetze auf, die die Wirklichkeit transzendieren, und zeichnet sie in einer Schreibart auf, die mitten im gewissenhaften Realismus einen Spalt für das Wunder offen hält. Die Möglichkeit der Epiphanie, genau wie bei Joyce, dessen Meisternovelle “The Dead” (Dubliners), Hanus Kamban vor einigen Jahren ins Färöische übersetzt hat.

Ausser Texten von Joyce, hat Kamban auch Novellen von u.a. Ray Bradbury, H.G. Wells und Graham Greene ins Färöische übersetzt. 1989 erschien seine Übersetzung von Shakespeares Othello. 2003 veröffentlichte er eine Sciencefiction Anthologie mit Novellen von u.a. Nathaniel Hawthorne, J.G. Ballard und Ursula K. Le Guin, und mit einer umfangsreichen Abhandlung über die Gattung Sciencefiction versehen. Eine Anthologie klassisch-realistischer europäischer Erzählungen, mit Beiträgen von u.a. Mérimée, H.C. Andersen, Maupassant, Kafka, Platonov, Blixen und Ilse Aichinger, ist zur Zeit in der Publikationsphase.

Kamban, der Deutsch beherrscht und die Sprache fliessend spricht, verbrachte die Zeit von August 2009 bis Juli 2010 in Freiburg, wo er u.a. Altgriechisch an der Universität studierte. In diesem Zeitraum schrieb er die meisten der zehn Novellen seiner neuen Novellensammlung, die im Herbst 2010 unter dem Titel Gullgentan (Das goldene Mädchen) erschien. Die meisten dieser Texte gehören der Phantastik, zwei sind als mittelalterliche Sagen verfasst, zwei Erzählungen sind aber entschiedene Sciencefiction Texte. Die Protagonisten und Ereignisse dieses Buches können in vielen Fällen als Vertreter von Ideen, Begriffen und Tendenzen verstanden werden, und das Buch hat als ganzes ein abstraktes, fast allegorisches Gepräge. Die Anfangsnovelle, mit dem Titel “Die duftende Stadt”, ist eine sarkastische Schilderung der Sauberkeitsbesessenheit der modernen Metropole. Eine andere Novelle, “Saxifraga nivalis”, in der der Autor auf Sagenmaterial aus seiner Kindheit baut, ist eine vielfacettierte Kontemplation über Licht und Schatten, Gut und Böse. In einer dritten Novelle, “Exit Farao”, schildert der Autor eine von Robotern beherrschte Gesellschaft der Zukunft, wo sich die Menschen, die die hirntote Apathie hohes Altertums nicht mehr ertragen können, sich von ihren neuen Herren das Recht des ästhetisch orchestrierten Freitods abverlangen. Andere Themen, die in diesem Buch behandelt werden, sind Mobbing, Pädophilie und psychologische Stigmatisierung. Es gibt sogar im Buch auch eine moderne Jeanne d´Arc Schilderung.

Von Hanus Kambans literarischer Produktion müssen vor allem zwei andere Werke hervorgehoben werden. In der Gedichtsammlung Café Europa, 2008, thematisiert der Dichter Europa als kulturelles Gebiet und zugleich seine eigene Inselwelt sowohl als atlantische Peripherie mit einer alten Kultur als auch als Spiegelung des Kontinents. Und in der literarischen Biographie J.H.O. Djurhuus, 1994-97 (dänische Übersetzung 2001), schildert er den ersten modernen färöischen Lyriker, sein konfliktgeladenes Leben und seine Gedichte so wie auch seine Übersetzungen (vor allem von Platon). Das Werk schildert auch die kulturelle und politische Entwicklung der Färöer Inseln zu einer modernen Nation.

Kamban hat mehrere literarische Preise bekommen. Im Jahr 2004 war die Novellensammlung Pílagrímar färöischer Kandidat zum nordischen Literaturpreis. Der Autor ist unter den ungefähr 300 Künstlern, die alljährlich eine lebenslange Leistung vom dänischen Staat bekommen.

Werke – eine Auswahl

Dóttir av Proteus (Tochter von Proteus), 1980, Novellen.

Við tendraðum lyktum (Mit eingeschalteten Lanternen), 1982, Novellen.

Med Edgar Allan Poe i Solhavn, 1984, Novellen-Anthologie, dänische Übersetzung.

Hotel Heyst (Hotel Herbst), 1986, Novellen.

Den andra vägen och andra berättelser (Der andere Weg und andere Erzählungen), 1986, Novellen-Anthologie, schwedische Übersetzung.

Hjalmar Söderberg, 1994, literarische Monographie.

J.H.O. Djurhuus – ein bókmentalig ævisøga (J.H.O. Djurhuus – eine literarische Biographie), 1994-97. Dänische Übersetzung (Syddansk Universitetsforlag), 2001.

Pílagrímar (Pilger), 2001, Novellen. Dänische Übersetzung 2003.

Tað nýggja Atlantis (Das neue Atlantis), 2002, Sciencefiction Anthologie.

Herman Bang, 2007, literarische Monographie.

Café Europa, 2008, Gedichte.

Gullgentan (Das goldene Mädchen), Novellen, 2010.